Gesehen und gelesen – Dezember 1997

Es ist ein privater Fernsehsender (RTL), er hatte schon mehrfach über sogenannte »Randgruppen« berichtet. Dazu rechnet man ja in unserem Lande die TV + TS. Diesmal war es eine Reportage in der »exklusiv«-Reihe über das Schicksal der Tina (am 2.12.1997), die seit Geburt eigentlich ein Franz war. Fast 60 Minuten lang gab es eine Nachzeichnung des Lebensweges, relativ wenig auf die »Sensations-Tour« ausgerichtet. Sowohl die Behörden als auch beteiligte Mediziner sprachen in vorurteilsloser Weise über die vollzogene Wandlung der Tina. Dabei hörte man vom Nervenarzt sehr hilfreiche Überlegungen zu solchen Erfahrungen. Für den interessierten Zuschauer blieben Fragen offen, z. B. wie kann Tina nun ihren Lebensunterhalt verdienen? Und wie gestalten sich ihre Beziehungen zum »anderen« Geschlecht?

Da wir gerade beim Fernsehen sind – natürlich berichtet es auch von Grenzfällen, bei denen z. B. transsexuelle Neigungen nur eine Nebenrolle spielen. Aber wenn von einem Kranken berichtet wird, der in der Psychiatrie gelandet ist, einige Morde auf dem Gewissen hat und nun seinen Wunsch vor der Kamera erzählt, eine »richtige Frau« zu werden durch eine Operation – dann werden gewiß bei manchem Zuschauer Vorurteile in dieser Richtung eher verstärkt, als abgebaut. Aber – ein Reporter kann immer darauf hinweisen: so etwas gibt es auch.

Auf meinem Tisch liegen mehrere Taschenbücher. Eines davon heißt »Der Zementgarten« von Ian McEvan (Progress, 1982, 206 S.). Früher schon im Fernsehen als Film gezeigt, hat man diese Schilderung aus dem englischem Arbeiterbereich nun auch als Lesestoff in der Hand. Es geht um die 4 Kinder einer Familie, welche die Abwesenheit des Vaters und Tod der Mutter völlig alleine meistern, ohne daß jemand ihre Situation rechtzeitig bemerkt. Die größeren Geschwister erleben den jüngeren Bruder, der nach dem Tod der Mutter unbedingt darauf besteht, als Mädchen in die Schule zu gehen. Er habe es satt, ein Junge zu sein. Als er von den Geschwistern gefragt wird, warum das so sei: »Weil einen dann keiner schlägt, wenn man ein Mädchen ist.« In kindlicher Naivität weiß er auch, wie man es denn anstellen könne, Mädchen zu sein, wenn doch alle wüßten, er sei ein Junge: »Ich ziehe mir ein Kleid an und lege mir die Haare wie Du«, erklärt er seiner Schwester! Und mit Hilfe dieser verwandelt er sich auch. Tja, lieber Leser, wenn es so einfach wäre…

Um viel schlimmere Dinge geht es im Taschenbuch »Venezianische Scharade« von Donna Leon. Es ist ein neuer Fall des langsam berühmt werdenden Commissario Brunetti (Diogenes, 1996, 373 S.). Mit einem aufsehenerregenden Fund beginnt die Story: ein ehrbarer Banker Venedigs wird in einem Kleid und roten Damenschuhen in einer berüchtigten Gegend der Stadt tot aufgefunden. Genau diese Schuhe (Übergröße 41) bringen die erste brauchbare Spur. Am Ende war der gute Mann weder TV noch aus der dieser Szene. Zu dieser Erkenntnis hilft dem Commissario noch folgendes ungewöhnliche Detail: Die Beine des Toten waren (aber erst nach seinem Tod) rasiert worden, um die Echtheit der Verkleidung zu belegen. Man fragt sich als Leser, wer mag der Autorin als Beraterin gedient haben, um solchen Fakt zu erwähnen?

Eine interessante Neuerscheinung ist seit November dieses Jahres auf dem Markt. Das Taschenbuch hat den Titel »Wenn Frauen Männerkleider tragen«, Autorin ist Gertrud Lehnert (Deutscher Taschenbuchverlag., 224 S.). Es geht eigentlich nicht um eine Beurteilung der Frauen, die in verschiedenen Jahrhunderten ihre Rolle mit der der Männer getauscht haben – oder doch wenigstens die Kleider – sie versucht eher herauszustellen, warum diese Frauen ihre Identität erst in der Kleidung des anderen Geschlechts gesucht bzw. gefunden haben. Beispiele nimmt sie aus Romanen und Theaterstücken, Filmen und Biographien. Sie kommt zur Überzeugung, daß die differenzierten Formen des Überganges von einem zum anderen Geschlecht eine positive Entwicklung der Gesellschaft sind. Ein Taschenbuch, welches man empfehlen kann.

Ein weiterer Text: »Von tanzenden Kleidern und sprechenden Leibern«, Taschenbuch von Susanne Benedek/Adolphe Binder (Edition Ebersbach, 1996, 240 S.) Ein ansprechender Titel, aber man merkt vielen Texten an, daß sie als wissenschaftlich erarbeitete Sammlung entstanden. Eigentlich geht es um Themen zur Androgynität. Crossdressing »als Auflösung der Geschlechter-Polarität« (ein Untertitel des Buches) wird kaum beantwortet. Ähnlich auch »Sakkorausch und Rollentausch« von Stoll/Wodtke-Werner, um den Titel wenigstens zu nennen. So long für diesmal. Gute Schritte ins Neue Jahr wünscht

Rita/Bremen


Seite angelegt am 21.11.2004, zuletzt geändert am 05.09.2005.