Gelesen und gesehen – September 1995

Zu allen Zeiten haben einige Männer Frauenkleider angezogen. Aber nur im europäischen Barock haben sie es getan, weil die katholische Kirche es so wollte. Stimmt dieser Satz? Eigentlich schon, nur hängt alles von dem sogenannten »kleinen Unterschied« ab. Genauer gesagt von der Frage, ob denn jene Megastars auf den Opernbühnen Männer im vollen Sinne waren?

Wer es denn genauer wissen will, könnte sich in diesen Wochen den höchst effektvollen Film über »Farinelli« ansehen, er trägt den Untertitel »Il Castrato«. Es waren ja Kastraten, Jungen, die man vor dem Stimmbruch operativ »entmannte«, um so die hellen Knabenstimmen zu erhalten. Im 17. Jahrhundert hatten sie in den Kirchen bereits große Bedeutung, denn weil viele Frauen durch ein Kirchenverdikt gehindert wurden, öffentlich aufzutreten, praktizierte man diese »Lösung«, die den Musikern zu passen schien. Allerdings ist die wundervolle Stimme, die wir im Film hören, tatsächlich eine technische Leistung, denn die echte Stimme einer Sopranistin und eines Counter-Tenors wurden so gemixt, daß uns Farinelli zum Staunen bringt, wenn er den Mund öffnet.

Da »androgyn« eigentlich In ist, ruft dieses farbenfrohe Musikdrama etliches Interesse beim Publikum hervor. Wenig sagt es uns aus über das Rollenspiel der Geschlechter, wenn auch die sexuellen Fähigkeiten (oder Grenzen) des Film-Farinelli eine beachtliche Rolle spielen. Aber der geneigte Leser wird auf etliche Bücher hingewiesen, die auch dieses Thema behandeln und derzeit auf dem Markt sind, wie z. B. H. Krausser »Melodien«, M. de Moor »Der Virtuose« u. a. In Italien jedenfalls soll nach einer gelungenen Opartion/Kastration manchmal der Ruf ertönt sein »es lebe das Messerchen«. Nun denn, mein Tip: den Film ansehen.

Sehenswert könnte auch die neue Show sein, mit welcher die uns bekannte Mary in den nächsten Wochen durch die Lande ziehen will. Weniger geglückt war dagegen wohl ihr Ausflug in die medizinischen Bereiche unseres öffentlich-rechtlichen Fernsehens am 2. September. Wir reden von »Mary's verrücktem Krankenhaus«, in dem sie mit dem eher distanziert wirkenden K. Wussow zu sehen war.

Erfreulich daher, wie sie ihre Selbsterkenntnis in einem Interview zum Ausdruck brachte: Mary sei tatsächlich in die Wechseljahre gekommen und wollte darum nicht mehr als Modepüppchen herumlaufen. Wir registrieren dieses Versprechen.

Obwohl ich das Monatsmagazin nicht regelmäßig lese, so war doch der Hauptartikel interessant, der dort neulich zu entdecken war: »Travestie von gestern?« A. Wittorf schreibt nicht nur über die Profi-TV’s, wie sie im Pulverfaß zu Hamburg auftreten, sondern stellt fest: zumindest im Bereich der Szene in unseren Großstädten würden die Auftritte der Fummel-Tanten zurückgehen. »Fummel, Federboa, falsche Wimpern, wo sind sie geblieben?« so fragt er. Nun, es gibt auch noch andere Minderheiten-Gruppen, in denen er solche Attribute auch jetzt noch finden wird. Aber es scheint zu stimmen, schrille Kostüme sehen wir heute eher auf einer Streetparade als in der entsprechenden Szene. Interessant. So long für heute.

Rita/Bremen


Seite angelegt am 21.11.2004, zuletzt geändert am 01.09.2005.