Ethische Aspekte der Transsexualität

von Dr. med. Angelika Franz

Angelika Franz hielt ihr Referat mit dem Titel »Ethische Aspekte der Transsexualität« am 30. November 1985 beim Evangelischen Forum im Haus der Kirche, in München. Anlass war die Fachtagung »Zerrissen zwischen zwei Geschlechtern. Die Transsexualität im Kontext unserer Zeit.«.

An Stelle eines Vorwortes

Oft habe ich mich gefragt, warum Transsexuelle es derart schwer haben, ihren schicksalhaft vorgegebenen Weg zu gehen. Warum ihnen von sichtlich verwirrten Mitmenschen so viele Steine in den Weg gelegt werden, von Menschen, deren Weltbild – das Weltbild unserer Kultur – offenbar in seinen Fundamenten erschüttert wurde.

Die Existenz des Phänomens Transsexualität ist Realität. Wenn der Einbruch dieser Realität in unser bestehendes Weltbild als derart störend empfunden wird, so kann der Grund doch wohl nur darin liegen, dass unser Weltbild veränderungsbedürftig ist, besonders unser Verhältnis zu Polaritäten, zu begrifflichen Gegensätzen. In Zeiten fallender Mauern kann es wohl nur darum gehen, Brücken zwischen den Extremen zu bauen. Das Wort »Polarität« leitet sich vom griechischen Wort »polos« ab, welches Wagenachse bedeutet. Ohne Wagenachsen, die an zwei Punkten aufgehängt sind, kann kein Wagen fahren.

Im nachfolgend abgedruckten Referat wollte ich versuchen, in die philosophischen Abgründe, die sich unversehens öffnen, einen kleinen neugierigen Blick zu werfen.

Angelika Franz

30. November 1989


Meine Damen und Herren,

gestatten Sie mir gleich zu Beginn meines Referates einige Begriffsdefinitionen: Der Begriff »transsexuell« meint in seiner Wortbedeutung »jenseits des – eigentlichen – Geschlechts«. Demnach sind beispielsweise transsexuelle Frauen Menschen, die zwar biologisch die Merkmale des männlichen Geschlechts tragen, die in ihrem Persönlichkeitskern jedoch weiblich sind, also Mann-zu-Frau-Transsexuelle. Umgekehrt sind demnach Frau-zu-Mann-Transsexuelle die transsexuellen Männer. Es hat sich eben als sinnvoll erwiesen, die Bezeichnung nach dem Ziel zu wählen, wie ja auch Rom-Reisende Reisende auf dem Wege nach Rom sind, gleichgültig wo ihre Heimat liegen mag. Auch muss an dieser Stelle einmal eine weitere Begriffsverwirrung ausgeräumt werden, nämlich die anhaltende Vertauschung von »Rolle« und »Identität«.

Wer sie gleichbedeutend benutzt, verschleiert ihren grundsätzlich unterschiedlichen Bedeutungsgehalt: Geschlecht ist nicht eine monolithische Eigenschaft! Vielmehr ist Geschlecht dreidimensional zu sehen, und diese drei Dimensionen sind:

  1. Körper,
  2. Rolle (Rollenverhalten, Kleidung, Bewegungsabläufe etc.) und
  3. Identität (sich selbstverständlich als Mann oder Frau erleben).

Aber auch der Körper als solcher hat nicht nur ein Geschlecht. Da gibt es

  1. die Chromosomen,
  2. die Keimdrüsen (Hoden oder Eierstöcke),
  3. das hormonelle Geschlecht (überwiegend von männlichen oder weiblichen Sexualhormonen im Blut),
  4. die inneren Genitalien (bei der Frau: Scheide, Gebärmutter, Eileiter usw.; beim Mann: Samenleiter, Prostata usw.),
  5. die äußeren Genitalien (Penis und Hodensack beim Mann; Schamlippen, Klitoris usw. bei der Frau); sowie
  6. die sekundären Geschlechtsmerkmale wie: Körperbau und Körpergröße, Stimmlage, weibliche Brüste, männlicher Bartwuchs usw.

Bei einigen Menschen, nämlich den Intersexuellen (Hermaphroditen, Zwittern) weisen nicht alle in eine einheitliche Richtung, sondern differieren mehr oder weniger stark. Sehr oft orientieren sich die Ärzte in solchen Fällen an den Chromosomen, denn diese sind meistens eindeutig entweder XX (weiblich) oder XY (männlich): Ein Mensch mit einem y-Chromosom, so sagen sie, sei also ein Mann.

Das klingt zunächst vielleicht einleuchtend, aber man muss sich dabei vergegenwärtigen: das ist eine Definition, und zwar genauso willkürlich wie jede andere Definition auch! Dies freilich wird bei Diskussionen über solche Probleme gerne verschwiegen!

Definition von Transsexualität:

In diesem Modell, wonach sich »Geschlecht« aus Körper, Rolle und Identität zusammensetzt, muss man sich Transsexualität vorstellen als ein Auseinanderfallen von Körper (und Rolle) auf der einen Seite sowie Geschlechtsidentität auf der anderen Seite:

Transsexualität = Körper + Rolle – Geschlechtsidentität

Nun sind zwar – auch in der Ärzteschaft – die meisten Menschen davon überzeugt, dass das Körpergeschlecht der verbindliche Ausdruck des eigentlichen Geschlechts sei, dem man sich zu beugen habe. Notfalls müsse eben die Seele zum Körper passend hingebogen werden – und sei es mit Gewalt. Aber, meine Damen und Herren, auch das ist eine Definition und genauso willkürlich wie jede andere! Daran ändert auch nichts, wenn sie in unserem Kulturkreis in dieser Form seit Jahrhunderten existiert. Und so bestehe ich darauf: ich definiere die Geschlechtsidentität als das Eigentliche, als den Kern meines Geschlechts.

Wenn ich bei den Geschlechtsdimensionen die sexuelle Orientierung (heterosexuell, homosexuell oder bisexuell) völlig ausgeklammert habe, so geschah dies mit Absicht, denn das eine bin ich mit meinem Geschlecht, und das andere ist das, was mein Partner oder meine Partnerin sein soll, mit wem ich Zärtlichkeiten, Sexualität und einen Abschnitt meines Lebensweges teilen will.

Ätiologiehypothesen:

Herr Dr. Kockott hat es mir heute relativ leicht gemacht, er gab sich sehr liberal und progressiv. So sind freilich die wenigsten seiner Kollegen, wenn es um Publikationen geht! Und deswegen muss ich mich hier ein wenig mit verschiedenen Ätiologiehypothesen auseinandersetzen, also den Vorstellungen, die sich Leute, die sich als Wissenschaftler bezeichnen, darüber machen, wie so ein Phänomen wie Transsexualität entstehen könnte. Dass ein solch komplexes Problem grobe Vereinfachungen nicht zulässt, verstünde sich eigentlich von selbst; doch wir wollen sehen, welch teilweise recht seltsame Pflanzen hier ihre Blüten treiben:

Die Androgynie-Hypothese

Und so möchte ich gleich einmal mit etwas sehr Unwissenschaftlichem anfangen, und zwar mit einem Erklärungsversuch, den ich einmal hilfsweise als Androgynie-Hypothese bezeichnen möchte. Ihre Vertreter sind an vielen Orten zu finden; ihr Spektrum reicht von der »Emma«-Herausgeberin Alice Schwarzer bis zur Berliner Stadtzeitung »Tip«. Gemeinsam ist ihnen allen ihr betont links-progressiver Touch.

Ihr Ausgangspunkt ist die tiefenpsychologische Erkenntnis, dass jeder Mensch, ob Mann oder Frau, in ihrem psychologischen Apparat Eigenschaften und Anteile besitzt, die man als »männlich« oder »weiblich« bezeichnen kann. So weit so gut. Doch nun schlussfolgern sie in einer unreflektierten Weise, dass z.B. Männer, die sich einbildeten, sie seien Frauen, nur ein bisschen mehr ihre weiblichen Anteile ausleben sollten, und schon löse sich das ganze Problem in Wohlgefallen auf.

Freilich wird dabei geflissentlich übersehen, dass sich eine so geartete »Androgynie« allenfalls auf die Rolle beziehen kann, nicht jedoch auf die Geschlechtsidentität; und schon gar nicht auf die von Transsexuellen angestrebte Einheit von Körper, Seele und Geist/Identität, die allein psychische Gesundheit ermöglicht. So kann also ein Ausleben von »männlichen« oder »weiblichen« Eigenschaften, mithin nur ein Verhalten, eine Rolle, den Angleich des Körpers an eine andersgelagerte Identität nicht ersetzen.

Schließlich muss auch einmal gesagt werden, dass es sich bei den Vertretern dieser Hypothese meistens um Menschen handelt, die selbst große Probleme haben mit ihrer Geschlechtsrolle und der Enge, die sie darin erleben. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass Transsexuelle, ausgerechnet ein paar Tausend Leute, die wohl mehr als sie unter ihrer Situation zu leiden haben – zumindest vor dem vollständigen Wechsel, stellvertretend für diese Damen und Herren die Auflösung der Geschlechtsrollen herbeiführen sollen. Dies ist nicht möglich; wenn ihnen denn schon soviel daran liegt, dann werden sie das wohl oder übel selber machen müssen.

Die Zwischenhirn-Prägungs-Hypothese

Hier muss ich nun einen Namen nennen: den Endokrinologen (= Hormonspezialisten) Günter Dörner in Ostberlin. Dass er ausgerechnet in Ostberlin lebt und arbeitet, ist kein Zufall, denn er hat dort von Staats wegen die Aufgabe, missliebige sexuelle Abweichungen als hormonbedingt zu erklären, um dagegen eine medikamentöse Therapie entwickeln zu können, die in möglichst frühen Lebensstadien eingesetzt werden kann.

So erklärt er Homosexualität und Transsexualität in gleicher Weise als eine embryonale hormonelle Fehlprägung des Hypothalamus (einem Zwischenhirnanteil, der für die Regulation des Wärme- und Wasserhaushalts, des Hungergefühls sowie für die Steuerung der Hormonproduktion der Hypophyse (= Hirnanhangsdrüse) zuständig ist). Ein zu hoher Spiegel an Östrogenen im embryonalen Blut beispielsweise soll also bei männlichen Embryonen zu einer weiblichen Fehlprägung des Hypothalamus führen. Nun ist es aber eine simple schulmedizinische Tatsache, dass sowohl der Östrogen- als auch der Gestagenspiegel im mütterlichen Blut während einer Schwangerschaft sehr hoch sind. Die Plazenta (= der Mutterkuchen) produziert gewaltige Mengen davon, die zu guten Teilen über die Plazentarschranke – die mütterlichen und kindlichen Blutkreislauf voneinander trennt – auch ins kindliche Blut gelangt, und zwar unabhängig vom Geschlecht des Kindes. Trotzdem wird nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der Menschheit transsexuell, so dass dies als Ursache hierfür kaum verantwortlich gemacht werden kann.

Herr Dörner stützt sich bei seinen Forschungen auf Versuche mit Ratten, die ein je nach Sexualhormonspiegel verschiedenes Sexualverhalten zeigen. Das menschliche Sexualverhalten ist hingegen weitgehend vom Großhirn bestimmt und in der menschlichen Großhirnrinde lassen sich keine Rezeptoren für Sexualhormone nachweisen. Und schließlich können wir doch nicht einfach so tun – auch Herr Dörner nicht –, als wären wir Ratten! Wir haben ein Großhirn und nicht alleine dazu, um es spazierenzutragen! Außerdem, ich sehe hier auch eine ideologische Querverbindung zum harten Behaviorismus, der den Menschen nur als »Black Box« auffasst, als ein Wesen ohne Seele und Willensfreiheit, das einem Computer gleich zwangsläufig auf Input und Output reagiert, seien es nun Reize oder Hormone. Ich finde, es muss einmal deutlich gesagt werden: Solche Vorstellungen treten die Menschenwürde mit Füßen!

Die Hypothese der uneingestandenen Homosexualität

Als nächstes muss ich mich mit Alfred Springer in Wien auseinandersetzen: Er geht zunächst einmal davon aus, dass Homosexualität ein zu akzeptierendes und nicht therapiebedürftiges Phänomen sei; insoweit möchte ich ihm voll zustimmen. Dann aber postuliert er, Transsexualität sei stets eine uneingestandene Homosexualität. Diese Hypothese hat schon Herr Kockott widerlegt, und so muss ich ihn hier nicht wiederholen. Interessant ist freilich Springers Argumentationsweise, bei der er am Ende der Argumentationskette seine implizierten Voraussetzungen wiederfindet, also eine raffinierte Zirkelschlusslogik:

Einen transsexuellen Mann (biologisch natürlich weiblichen Geschlechts), der sich das Zusammensein mit einer Frau wünscht, beschreibt er von vornherein folgendermaßen: »Zu mir kam eine homosexuelle Frau mit dem Wunsch, ein Mann zu sein.« Dies nimmt er als Prämisse, dreht es durch seine Mühle, macht einen argumentatorischen Salto mortale, und heraus kommt eine homosexuelle Frau, die eben bloß zu ihrer Neigung stehen müsse. So einfach geht das.

Weiterhin schreibt er, er stelle fest, dass männliche Homosexuelle im 19. Jahrhundert ähnlich beschrieben wurden, wie sich heute Mann-zu-Frau-Transsexuelle beschreiben: »Mulier in viri corpore inclusa« – eine Frau, die in einen männlichen Körper eingeschlossen ist. Ganz abgesehen davon, dass dies nur ein Bild war, um ein damals unverstandenes und den gesellschaftlichen Normen gänzlich zuwiederlaufendes Phänomen zu beschreiben, nun herzugehen, und von der Ähnlichkeit irgendwelcher Beschreibungen – noch dazu zu unvergleichbaren Zeiten – auf die Gleichheit der beschriebenen Phänomene zu schließen, ja, also da sträuben sich in mir irgendwo alle Haare. Die Frucht »Birne« die wir alle kennen, ist nun einmal auch keine Glühbirne, auch wenn beides »Birnen« sind!

Die psychoanalytische Hypothese (Stoller und Socarides)

Nun komme ich zu der Ätiologiehypothese, die von den amerikanischen Psychoanalytikern Stoller und Socarides entwickelt wurde. Vorausschicken möchte ich, dass ich sehr viel von der Psychoanalyse halte, solange sie sich auf ihre bewährten Gebiete beschränkt und sich nicht in wilden Spekulationen ergeht. So behaupten also Stoller und Socarides, Transsexualität entstehe psychodynamisch im Kleinkindalter bei folgender familiärer Konstellation:

  1. eine nach außen hin dominante, im Grunde aber ichschwache Mutter entlässt das Kind nicht aus der Symbiose; während
  2. der Vater emotional (oder auch physisch) nicht anwesend ist und so das Kind nicht aus der Symbiose mit der Mutter lösen helfen kann (Fachbegriff: Triangulierung).

Zwar findet sich bei Transsexuellen tatsächlich oft diese Situation, doch die Überraschung weicht, wenn man feststellt, dass genau dieselbe Konstellation für die überwiegende Mehrzahl aller Neurosen und psychosomatischen Erkrankungen verantwortlich gemacht wird und im übrigen die übliche Situation in unserer heutigen bürgerlichen Kleinfamilie ist, in einer Zeit, da die überkommenen Geschlechterrollen zunehmend in Frage gestellt werden und mit ihnen bei vielen Männern und auch Frauen ihr darauf gründendes Selbstverständnis als Mann oder Frau. Dass Frauen, die sich aus traditionellen Rollenzwängen befreien, von Psychoanalytikern leicht als »dominant« oder »phallisch« bezeichnet werden, spricht für sich selbst.

Aufgrund der gesellschaftlich bedingten enormen Häufigkeit dieser familiären Situation müsste es – folgt man Stoller und Socarides – erheblich mehr Transsexuelle geben!

Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass ich nicht die Transsexualität an sich als Neurose ansehe, dass sehr wohl aber das Verleugnen und Verdrängen der Tatsache, transsexuell zu sein, überaus häufig zu neurotischen Fehlentwicklungen und psychosomatischen Erkrankungen führt.

Die Borderline-Hypothese (Sigusch)

Der bekannte Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch ist selbst homosexuell und hat so auch ein großes Verständnis für Homosexuelle. Im einzelnen schreibt er (zusammen mit Dannecker, Schmidt und Schorsch in der Zeitschrift »Psychologie heute«, Juni 1981):

»Es ist an die elementaren Sätze einer Theorie der Homosexualität zu erinnern: Homosexualität ist zunächst einmal eine anthropologische Kategorie. Als solche bezeichnet sie eine in der menschlichen Anlage bereitliegende Verhaltensmöglichkeit. Homosexualität verweist demnach auf alle Menschen, nicht nur auf manifest homosexuelle. Die manifeste Homosexualität wiederum ist als eine Persönlichkeitsstruktur zu betrachten und nicht als ein Symptom einer Person oder einer Krankheit. Deshalb kann sie nicht beseitigt werden, ohne einen Menschen als gesamte Person in Gefahr zu bringen.« (Sic!)

Konsequenterweise müsste er nahezu wortwörtlich dasselbe für Transsexuelle postulieren (wobei ich ihm hocherfreut voll zustimmen würde). Doch weit gefehlt! Transsexualität – so behauptet er einfach – sei eine besondere Erscheinungsweise des sogenannten »Borderline-Syndroms« – auf deutsch: Grenz-Syndrom. Es ist sehr schwierig, hier in der Kürze der Zeit das Phänomen »Borderline-Syndrom« verständlich zu erklären: deshalb nur einige Stichpunkte: man versteht darunter eine psychische Erkrankung, die in Schwere und Symptomatik zwischen Neurosen und Psychosen liegt. Dabei wird eine fehlende Ich-Identität notdürftig durch sogenannte Ersatz-Ichs geflickt, die im Allgemeinen stabil genug sind, dass es die meiste Zeit über nicht zu psychotischen Durchbrüchen mit Realitätsverlust, Wahnvorstellungen und Halluzinationen kommt. Nach außen hin erscheinen diese Menschen auf den ersten Blick völlig angepasst und gut funktionierend. Auf den zweiten Blick jedoch erkennt der Geübte die fassadenhafte Ersatz-Ich-Bildung.

Bei Transsexuellen will Sigusch nun in besonderem Maße fassadenhaft wirkende Ich-Ersatz-Identitäten beobachtet haben, und so postuliert er, Transsexualität sei eine besondere Symptombildung eines Borderline-Syndroms. Wie bei solchen Kennern der menschlichen Psyche üblich, vernachlässigt er dabei völlig die besondere biographische Entwicklung von Transsexuellen im allgemeinen, sowie die spezielle Situation von Gutachtergesprächen; kurz: er hält seinen ganz besonderen Sichtwinkel der vielleicht größten Lebenskrise dieser Menschen unter dem besonderen Druck eines kurzen Begutachtergespräches für die ganze Wahrheit dieses Menschen.

Außerdem offenbart Sigusch indirekt, dass er allem Anschein nach keine Nachuntersuchungen nach der operativen Genitaltransformation kennt. Nur so kann es kommen, dass er die spezifische Situation von Transsexuellen so gründlich missversteht. Nun bauen freilich Transsexuelle vor ihrem »Coming out« eine Art von fassadenhafter Identität auf. Sie zeigen nämlich zuallererst das Verhalten, das von Ihnen – ihrem biologischen Geschlecht entsprechend – erwartet wird. Teils um nicht aufzufallen, teils freilich auch als »Selbsttherapie«-Versuche, übersteigern vielfach ihre Rolle in bisweilen groteskem Bemühen, schon um nicht selbst an der gespielten Rolle zu zweifeln. Typisch dafür ist beispielsweise Jan Morris, die nach einer harten Offiziers-Karriere bei der Mount-Everest-Erstbesteigung dabei war.

Während der Zeit des »Coming out« zerbricht diese Ich-Fassade, und eine zunächst ziemlich orientierungslose Zeit muss durchgestanden werden. Gerade eben in diese Zeit fällt in der Regel die psychiatrische Begutachtung, so dass der auf diese Perspektive eingeengte Psychiater geneigt ist zu übersehen, dass unter den äußeren Schichten der abblätternden Rollen-Fassade und der darauf folgenden suchenden Orientierungslosigkeit die eigentliche und echte Identität bereits keimhaft angelegt ist. Doch muss dieser noch sehr zarte Keim in diesen Stadien des transsexuellen Weges vor den allzu rauen Stürmen – wie sie bei den üblichen psychiatrischen Härtetests offenbar unvermeidlich sind – meist noch eine Weile schützend geborgen werden.

Transsexuelle machen in ihrer Jugend nur eine recht unvollständige Pubertät durch: sie werden zwar erwachsen – körperlich wie psychisch –, doch die übliche Reifung und Festigung der Geschlechtsidentität bleibt aus. Stattdessen entwickelt sich die eben beschriebene fassadenhafte Rolle.

Erst in der Zeit des transsexuellen Übergangs kann der zweite – geschlechtsspezifische – Teil der Pubertät beginnen. Wirklich vervollständigt kann sie freilich erst nach der operativen Genitalkorrektur werden, da erst jetzt der selbstverständliche Umgang mit dem eigenen Körper erfahren und gelernt werden kann. Außerdem unternimmt jetzt kaum einer der lieben Mitmenschen mehr ernsthafte Versuche, diese Entwicklung doch noch umzukehren. Erst dann hat der Kampf ein Ende. So entwickelt sich – Monat um Monat reifend – allmählich der stattliche Baum der Geschlechtsidentität gemeinsam mit einem wahrhaften Ich.

Wir haben also gesehen, dass bei der Transsexualität ein Fassaden-Ich nicht entwickelt wird, um mittels eines »Hilfs-Ich« die fehlende Ich-Identität zu ersetzen. Vielmehr ist bei Transsexuellen sehr wohl eine Ich-Identität vorhanden, freilich mit einer dem biologischen Geschlecht widersprechenden Geschlechtsidentität als integralem und nicht herauslösbaren Bestandteil der Ich-Identität. Zum Schutz vor gesellschaftlicher Diskriminierung und aus Angst vor dem Verlust der engsten Bezugspersonen errichten Transsexuelle vor ihrem »Coming out« ihre neurotische Ich-Fassade – quasi als eine Art »Mogelpackung« –, die wiederum das Fundament für eine Menge weiterer Neurosen und psychosomatischer Erkrankungen abgeben kann.

Allgemeine Kritik an den Ätiologiehypothesen

Meine Damen und Herren, wir haben gesehen, dass jede der besprochenen Ätiologiehypothesen unhaltbar wird, wenn man sie sich einmal genauer ansieht und in allen Einzelheiten, Prämissen und Konsequenzen durchdenkt. In der Zusammenschau fallen allerdings noch einige erwähnenswerte Gemeinsamkeiten auf: Fast alle orientieren sich an viel zu geringen Fallzahlen sowie nahezu ausschließlich an Mann-zu-Frau-Transsexuellen. Offensichtlich sind sie das größere gesellschaftliche Skandalon. Frau-zu-Mann-Transsexuelle scheinen für viele Autoren gar nicht zu existieren.

Keiner der Autoren unterscheidet mit wirklich wissenschaftlicher Exaktheit zwischen »echten« Transsexuellen, also Menschen, bei denen eine primäre Transsexualität vorliegt, und Menschen, bei denen im Rahmen anderer Krankheiten und Phänomene phasenhaft ähnliche Wünsche vorkommen können (z.B. bei den verschiedenen Formen von Transvestitismus, uneingestandene Homosexualität, Adoleszenzkrisen, halluzinoid-wahnhafte Psychosen und andere). Da diese »unechte Transsexualität« gar nicht so selten vorkommt (ich habe für jedes der soeben angeführten Bilder Betroffene kennengelernt) und die Differentialdiagnose bisweilen wirklich nicht leicht zu sein scheint, nehmen die Autoren diese Fälle in unzulässig vereinfachender Weise zum Vorwand, um das Vorkommen einer primären Transsexualität gänzlich zu leugnen.

In allen Fachgebieten der Medizin existieren unzählige Krankheiten, die als primär angesehen werden und bezeichnet werden, und für »primär« haben findige Ärzte im Laufe der Jahrhunderte eine ganze Menge an Synonymen gefunden wie z.B. »endogen«, »essentiell«, »genuin«, »idiopathisch«, »konstitutionell« oder »kryptogenetisch« . Diese Vokabeln drücken im Grunde alle dieselbe Verlegenheit aus, in der sich die Medizin befindet, nämlich dass für die so bezeichneten Krankheiten und Phänomene keine oder keine befriedigenden kausalen Erklärungsmodelle existieren. Doch seltsamerweise weigern sich die Psychiater, die Transsexualität als ein primäres Phänomen und als eine eigenständige Krankheit (im Fachjargon: als eine nosologische Entität) anzuerkennen. Da ich hierfür keine Vernunftgründe erkennen kann – denn warum sollte eine primäre Transsexualität so viel seltsamer anmuten als beispielsweise eine endogene Depression –, kann über ihre Gründe nur spekuliert werden, doch dazu später.

So differenzieren die Autoren allesamt nicht zwischen der zugrunde liegenden Transsexualität und den sich aus der inneren Abwehr und dem Sich-nicht-eingestehen-können der Transsexualität entwickelnden psychischen Veränderungen, Neurosen wie Psychosomatosen.

Da also die Psychiater Transsexualismus entgegen allen bisherigen klinischen Erfahrungen nicht als eigenständige Krankheit anerkennen wollen, sondern nur als Symptom einer anderen – bisher freilich völlig unbekannten und bloß theoretisch postulierten-psychischen Erkrankung sehen wollen, lehnen sie die operative Genitalangleichung ab. Denn dadurch, so sagen sie, würde nur die Symptomatik angegangen, und nicht die Krankheit selbst.

Dieser Ansatz ist zwar in sich logisch, wird aber durch die weitere Entwicklung der allermeisten Ex-Transsexuellen nach ihrer Genitalkorrektur widerlegt. Die weit überwiegende Mehrzahl fühlt sich nämlich durch das Zusammenführen von Körper, Seele und Geist von ihrem Leiden geheilt. Die bisher alles Erleben beherrschende Thematik Geschlecht und Geschlechtsrolle nehme – so berichten sie – erstmals den ihr gebührenden Platz ein, wie bei anderen Menschen auch, ihr Blick weite sich plötzlich oft erstmals für ganz andere Bereiche, und ihre Arbeit beginne sie sehr zu interessieren.

Diese Verläufe bleiben den weisen Herren verborgen, da die postoperative psychische Entwicklung sie im allgemeinen überhaupt nicht interessiert. So sehr sie sich auch bemühen, die von ihnen vehement abgelehnte operative Genitalkorrektur zu verhindern – wie, darauf komme ich noch zu sprechen –, so wenig interessieren sie ihre Patienten nach der Operation. Mit der Ausstellung der Gutachten für Operation und Gericht ist der Kontakt beendet; eine regelmäßige psychische Nachbehandlung findet nicht statt.

Wozu denn auch, da sich der Patient oder die Patientin offensichtlich als völlig therapieresistent und als einer »Heilung« (im Sinne einer Angleichung der Psyche an das biologische Geschlecht) nicht zugänglich erwies. Das ausgestellte Gutachten, vom Psychiater offensichtlich als Kapitulation erlebt, beendet die Zusammenarbeit abrupt.

Die Begutachtung

Damit sind wir beim nächsten Kapitel angelangt, nämlich der Begutachtung. Maßstab einer jeden Begutachtung sind nach wie vor die von Sigusch u.a. in ihrem Buch »Sexualität und Medizin« aufgelisteten »Leitsymptome« (Anmerkung: Fanatische Besessenheit, Überzeichnung von Rollenklischees, Uniformität usw.).

Wer sie erfüllt, bekommt sein Gutachten. Die positiv Begutachteten wiederum werden als »typische Transsexuelle« in den Krankengeschichte vermerkt, und bei einer darauf basierenden wissenschaftlichen Auswertung pflanzt sich der Unsinn fort.

Was geschieht nun eigentlich in diesen Gutachtergesprächen?

Ich muss es einmal hart ausdrücken: Der Gutachter fungiert als selbstbestelltes Organ staatlicher Repression im rechtsfreien Raum. Das heißt: obwohl er de facto gleichsam hoheitliche Befugnisse ausübt, gibt es gegen ihn kein Rechtsmittel. Der Patient ist ihm und seiner Gnade ausgeliefert wie einst der Untertan seinem absoluten Fürsten.

Die Worte des Patienten werden grundsätzlich nicht an sich ernstgenommen, sondern nur nach vorgefassten Schemata auf ihren psychiatrischen Symptomgehalt hin gefiltert. Wie es dazu kommt, haben wir vorhin schon gesehen (Transsexualismus als Symptom einer anderen psychiatrischen Erkrankung).

Sodann ist Geschlechtsidentität von außen her letztlich nicht nachprüfbar; genausowenig übrigens wie die Gewissensnöte eines Kriegsdienstverweigerers oder die seelisch-sozialen Nöte einer Frau, die sich zu einer Abtreibung entschlossen hat. Nun haben die operative Genitalkorrektur bei Transsexualität, Kriegsdienstverweigerung und Abtreibung bei aller selbstverständlichen Verschiedenheit doch eines gemeinsam: sie sind politisch höchst unerwünscht, sind aber derzeit nicht einfach brutal unterdrückbar; also wird versucht, ihre Zahl mittels Schikanen gering zu halten (ein psychiatrischer Gutachter bekannte mir freimütig, er fühle sich von der Gesellschaft dafür bezahlt, nach Möglichkeit alle genitalkorrigierenden Operationen zu verhindern).

Zu diesen Schikanen gehören:

Wie sähe aber nun ärztliche Betreuung aus, wie ich sie mir wünschte?

Transsexualität ist ja zu sehen als ein primäres Phänomen ohne Krankheitswert an sich. Krankheitswertig ist hingegen das Leiden an der transsexuellen Situation und zwar im einzelnen:

Hier haben Ärzte und Psychologen zu helfen – mit dem nötigen Realitätsbezug, aber ohne Schikanen!

Nicht zuletzt sind Durchführung und Kontrolle der Hormontherapie sowie die operativen Eingriffe ärztliche Aufgaben, die im Interesse der Patienten mit großem Einfühlungsvermögen wahrgenommen werden wollen.

Die notwendigen Gutachten fallen daher wie reife Apfel vom Baum, wenn die Entwicklung einfach so weit fortgeschritten, die notwendigen Entscheidungen getroffen und die entsprechenden Schritte – wie etwa der Alltagstest – vom Patienten unternommen worden sind. Sie sollten freilich nur die notwendigsten Punkte in klaren, auch vor Juristen bestehenden Formulierungen enthalten. Seitenlange Schilderungen der intimsten Seiten der Patienten und ihrer Partner gehen Versicherungen oder Richter gar nichts an und sind letztlich nur für alle Beteiligten unendlich peinlich.

Auch muss sich der Patient darauf verlassen dürfen, dass nicht alle Zweifel und Unsicherheiten, die er im Lauf der Behandlung jemals geäußert hat, en detail im Gutachten erscheinen und so seine juristischen Chancen entscheidend schmälern. Die notwendige Folge solcher Missstände sind Verschlossenheit sowie fassadenhaftes Theaterspiel vor dem Gutachter, und das gerade in einer Lebensphase, in der die Patienten meist sehr einsam sind und einen Menschen dringend bräuchten, bei dem sie sich vertrauensvoll aussprechen könnten!

An dieser Stelle komme ich nicht umhin, über die Gründe dieser tiefsitzenden Ablehnung der operativen Genitalanpassung bei Transsexualität zu spekulieren:

Einerseits hat sie natürlich politisch-gesellschaftliche Gründe, und so verwundert es nicht, dass sich die Situation für Transsexuelle nach dem geistig-moralischen Offenbarungseid unserer Politik bereits spürbar zum Schlechten gewendet hat.

Hinzu kommt, dass der transsexuelle Weg von nicht wenigen als ein schockierender Verstoß gegen das scheinbare »Naturgesetz« von der Unüberschreitbarkeit und Absolutheit der Grenzen zwischen den Geschlechtern erlebt wird. Auf dieser Norm basieren die Machtansprüche der Männer im Patriarchat. Jawohl, meine Damen und Herren, trotz grundgesetzlich garantierter Gleichberechtigung leben wir nach wie vor in einer patriarchalen Gesellschaft, machen wir uns doch nichts vor! Und diese Macht wird ideologisch verbrämt durch angeblich »naturgegebene« Geschlechtsunterschiede. Und nun kommen die Transsexuellen daher, ebnen den Graben zwischen den Geschlechtern ein und demontieren so das Patriarchat? Unfasslich!

Was diesen Herren dabei allerdings entgangen ist, ist die schlichte Tatsache, dass es offensichtlich wesentliche Unterschiede zwischen Mann und Frau geben muss; wäre es denn sonst für Transsexuelle notwendig, auf Biegen und Brechen ihr äußeres Geschlecht ihrem inneren anzugleichen? Hier setzten nun Feministinnen mit ihrer Transsexualismus-Kritik an, indem sie Transsexuellen global vorwerfen, sie zementierten die durch das Patriarchat festgelegten Geschlechtsrollen.

In Wirklichkeit stimmt weder das eine noch das andere, denn beide Befürchtungen setzen viel zu oberflächlich an. Transsexualität hat mit Patriarchat hin oder her gar nichts zu tun, sondern verweist vielmehr auf sehr viel tiefer gelegene seelische Schichten.

Viele Menschen sind sich zudem ihrer eigenen Identität als Mann oder Frau sehr unsicher, so dass sie sich beim Kontakt mit Transsexuellen in ihrer eigenen Identität erheblich erschüttert fühlen. Stellvertretend für die eigenen Ängste werden nun die Transsexuellen abgelehnt und bekämpft; diesen Abwehrmechanismus nannte Freud »Projektion«.

Speziell bei Männern – und nahezu alle Gutachter sind Männer – spielt noch die Kastrationsangst eine große Rolle, wenn sie in ihrem gefühlsmäßigen Erleben zwischen Mann-zu-Frau-Transsexuellen und sich selbst nicht trennen können, sich die genitalkorrigierende Operation an ihrem Körper ausgeführt vorstellen und sich dies in lebhaften Bildern ausmalen! Freud bezeichnete solche Gefühle bei Therapeuten als »Gegenübertragung«. Damit sie ihre eigene Seele mit ihren Abgründen möglichst eingehend erfahren können und so mit Gegenübertragungen umzugehen lernen, werden Psychoanalytiker in einer jahrelangen Lehranalyse ausgiebig mit sich selbst konfrontiert. In der Ausbildung von Psychiatern und von Psychologen (die nicht gleichzeitig Psychoanalytiker sind) ist jedoch solch tiefe Selbsterkenntnis nicht vorgesehen.

Epilog

Es ist nahezu ausgeschlossen, über das Phänomen der Transsexualität zu sprechen oder überhaupt nur nachzudenken, ohne dass sich einem tiefe philosophische Abgründe öffneten. Die Philosophie gliedert sich bekanntlich in fünf Disziplinen, nämlich Ethik, Ästhetik, Logik, Metaphysik und Erkenntnistheorie. Über die ethischen Probleme der Transsexualität habe ich bereits ausführlich gesprochen: ich forderte das Recht auf Verwirklichung des Selbst in eigener Verantwortung und Selbstbestimmung ein; die derzeit praktizierte obrigkeitsstaatliche Bevormundung lehnte ich strikt ab.

Über ästhetische Fragen möchte ich mich in diesem Zusammenhang nicht äußern, Sie haben dafür sicherlich Verständnis.

Besprochen habe ich auch das Problem der Logik, wie es denn möglich ist, dass ein Mensch männlich und weiblich zugleich sein kann, was wie eine Verletzung des »Satzes vom ausgeschlossenen Dritten« aussieht (entweder der eine oder der andere Pol, niemals aber beide gleichzeitig). Wir haben gesehen, dass sich dieser Widerspruch auflösen lässt, indem wir feststellten, dass es eine eindimensionale Eigenschaft »Geschlecht« nicht gibt. Ebenso haben wir gesehen, dass die Geschlechtsidentität, das tiefe innere Wissen um die eigene letztliche Geschlechtszugehörigkeit, etwas anderes ist als die oft zitierten »männlichen« und »weiblichen« Anteile – in der chinesisch-taoistischen Philosophie »yin« und »yang« –, die jeder Mensch in seiner Psyche trägt; denn mit letzteren Bezeichnungen sind ausschließlich Verhaltens- und Erlebnisweisen gemeint, die zwar kulturell bevorzugt Männer oder Frauen zugeordnet werden, in Wirklichkeit aber beiden Geschlechtern zu eigen sind. In diesem Zusammenhang ist der oft gehörte Satz zu verstehen: »L àme nà pas de sexe« (die Seele hat kein Geschlecht).

Sehr subjektiv wird es, meine Damen und Herren, wenn ich jetzt auf die Metaphysik der Transsexualität zu sprechen komme.

Für manche wird diese Entwicklung zu ihrem »Koan«. So heißen im japanischen Zen auf den ersten Blick höchst paradox anmutende Sätze, die sich nach einer guten Zeit der intensiven (meditativen) Beschäftigung dem Lernenden blitzartig erschließen; ihr Sinn- und Weisheitsgehalt liegt auf einer gänzlich anderen Ebene.

Ihre Transsexualität erlebten viele als eine ihnen schicksalhaft übertragene Aufgabe, die sie annehmen müssen; so kann sie zu einem Weg der Erkenntnis der spirituellen Eingebundenheit der Menschen in eine höhere kosmische Ordnung sowie der mystischen Einheit allen Seins werden.

Dies alles können wir nicht rational erfassen (der Verstand fängt sich selbst in seiner eigenen Falle), sondern ausschließlich erfühlen. So weiß ich, meine Damen und Herren, dass sicherlich nur sehr wenige von Ihnen mir in diesen Gedanken folgen. Das ist auch gut so, denn wir alle müssen unseren eigenen Weg gehen.

Mir sind noch einige Bilder mehr eingefallen:

Transsexualität ist ein Numinosum, ein Mysterium tremendum et fascinosum, also ein Geheimnis, das die Menschen sehr fasziniert, ihnen aber gleichzeitig große Furcht einjagt; von daher wird es von besonders furchtsamen Menschen leicht dämonisiert. Sie brauchen sich nur anzusehen, wie in der Öffentlichkeit über das Phänomen der Transsexualität geschrieben wird, wie fast jede Zeile im Lichte von geheimnisvoll faszinierter Anziehung und furchtsam dämonisierender Ablehnung irisiert, mag es sich dabei um Artikel in der Boulevardpresse oder um psychiatrisch-medizinische »wissenschaftliche« Traktate handeln.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass bei einigen Völkern Menschen, die wir heute als Transsexuelle bezeichnen würden, als besonders geeignet dafür galten, Schamanen zu werden (nach Gisela Bleibtreu-Ehrenberg).

Die transsexuelle Entwicklung verlangt den umgekehrten Weg Fausts, was bei uns nicht sehr einfach ist, da unsere Kultur eine sehr faustische ist. Faust wollte erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«.

Zu diesem Zweck verlangte der Pakt zwischen Mephistopheles (die allegorische Verkörperung des alles spaltenden Dualitätsprinzips) und Faust von Faust unaufhörlichen Aktionismus, der eine Spur von Enttäuschung und Zerstörung hinter sich lässt. Dagegen fordert Transsexualität – konsequent betrachtet und um nicht in Äußerlichkeiten und modischem Schnickschnack hängenzubleiben – ein Innehalten und Innewerden in einem selbst. »Erkenne dich selbst!« stand am Tempel des Orakels von Delphi; Selbsterkenntnis galt als Voraussetzung für das Erkennen der Welt.

Fließend sind wir bei der letzten philosophischen Disziplin, der Erkenntnistheorie angekommen. Schon ganz zu Beginn meines Vortrages sprach ich von der Geschlechtsidentität, die die meisten Menschen an sich überhaupt nicht wahrnehmen können, und Transsexuelle nur indirekt über andere Gefühle (siehe dazu den Anhang 1: »Leitsymptome nach meiner Erfahrung«).

Streng genommen handelt es sich hierbei erkenntnistheoretisch um ein Konstrukt unseres Verstandes. Gedankliche Konstrukte dieser Art sind in der Naturwissenschaft wie in der Psychologie oder in der Philosophie üblich und dann erlaubt, wenn sie Wahrnehmungen zu strukturieren vermögen, ihnen nirgends widersprechen und in sich schlüssig sind. Gerade in der Physik finden sich zuhauf Beispiele, wie etwa die Elementarteilchen (Wer hat schon ein Elektron gesehen?) oder die Schwerkraft, die Newton erfand (jawohl, erfand) und über deren »wahre« Natur die verschiedensten Spekulationen existieren.

Ein weiteres erkenntnistheoretisches Problem – und hiermit komme ich zum Ende meines Vortrages – ist die Frage, ob es überhaupt eine naturwissenschaftliche oder psychologische Erklärung für die Ätiologie, das Warum der Transsexualität geben kann. Dies, so glaube ich, ist prinzipiell unmöglich, da ich das Phänomen Transsexualität – wie Sigusch und andere es für die Homosexualität postulieren – für eine anthropologische Kategorie halte, für eine in den menschlichen Anlagen bereitliegende Möglichkeit menschlichen Daseins. Das heißt freilich nicht, dass jeder Mensch ein bisschen transsexuell ist, der eine mehr, der andere weniger! Aber es heißt, dass Transsexualität so tief mit den Wurzeln der menschlichen Existenz, der Conditio humana verbunden ist, dass es prinzipiell unmöglich ist, sie empirisch – naturwissenschaftlich zu enträtseln. »Sich zu wundern ist der Anfang aller Philosophie« sagte Aristoteles und Sokrates fügte hinzu: »Nichts wissend weiß ich« (d.h., indem ich die Grenzen meines Wissens erkenne, werde ich zum wahrhaft Wissenden, zum Weisen).

Sich noch kindlich wundern können, nicht alles be-herr-schen und manipulieren zu wollen und dieses konstruktive Nichtwissen bewusst zu erleben, dies alles lässt Platz für Leben und Wachstum.

Ich danke Ihnen!


Anhang 1

Leitsymptome der Transsexualität nach meinen eigenen Beobachtungen:


Anhang 2:

Verschiedene Definitionen von Gesundheit und Krankheit:

Was jemand bei der Transsexualität als krank ansieht und was er unter »Heilung von der Transsexualität« versteht, ist u.a. auch davon abhängig, welche Definitionen von Gesundheit und Krankheit er dem zu Grunde legt. Im folgenden seien vier verschiedene aufgelistet (es sind nur die derzeit wichtigsten; medizinisch-historisch existieren wesentlich mehr):

Biologie: Gesundheit ist gute Anpassung an und gute Auseinandersetzungsfähigkeit mit den Lebensbedingungen in der Umwelt; Krankheit ist schlechte Anpassung und Auseinandersetzungsfähigkeit.

»Schulmedizin«:

  1. Somatische Medizin: Gesundheit ist Übereinstimmung aller mess- und überprüfbaren Parameter mit dem Normalbereich (= Referenzbereich, = Normwerte); der Normbereich wird im Allgemeinen ermittelt als Durchschnitt der Messwerte eines bestimmten Parameters bei der gesunden (nicht leidenden) Bevölkerungsgruppe gleichen Alters und Geschlechts. Krankheit ist Abweichung vom Normbereich mit Krankheitswert (= Leiden, Beschwerden, herabgesetzte Lebenserwartung etc.). Diese Abweichungen sind »auffällig«, weil sie dem Arzt oder der Ärztin beim Durchlesen der (z.B. Labor-) Befunde als nicht normal auffallen. Es gibt zudem noch nicht krankheitswertige Abweichungen von Normwerten, diese nennt man Normvarianten.
  2. Psychiatrie: Die grundlegende Definition von gesund und krank wird von der somatischen Medizin übernommen, mitsamt den Begriffen »Norm« und »Auffälligkeit«. Was in der somatischen Medizin als pragmatische Definition anwendbar sein mag (mit Naturheilweisen arbeitende Ärzte sowie Heilpraktiker sind auch hier schon anderer Meinung), ist in der Psychiatrie von umstrittenem Wert. Halbwegs »harte Fakten« sind die Kriterien: Arbeitsfähigkeit des Patienten sowie Selbst- und Fremdgefährdung. Als sonstige Norm- bzw. Referenzwerte dienen im allgemeinen die jeweils aktuellen gesellschafts- und kulturspezifischen Werte sowie die Frage, ob der Psychiater bestimmte Gefühle oder Handlungsweisen nachvollziehen kann oder nicht.

Weltgesundheitsorganisation (WHO): Gesundheit ist »völliges körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden«. Diese Definition ist in Ansatz gut und im Gegensatz zu den Definitionen zu 1) und zu 2) für unsere Problemstellung brauchbar. Nachteilig ist, dass hier als Gesundheit ein letztlich unerreichbares Ideal postuliert wird.

Naturheilkunde: Gesundheit ist


Dieser Vortrag wurde ursprünglich 1985 gehalten und 1990 als Sonderheft der Transidentitas e.V. veröffentlicht.

Seite angelegt am 23.05.2004, zuletzt geändert am 20.11.2005.