Transsexualität und Glaube – Eine Stimme aus der evangelische Kirche zur Transsexualität

Brief von Micha Rabeneck, erschienen in Vivatissimus, Heft 03/1998.

Wer in der Bibel eindeutige Aussagen zu Transsexualität sucht, wird wohl nicht fündig werden. Doch gibt es Textpassagen, die zum Nachdenken anregen.

Wer denkt, in der Bibel seien die Geschlechtsrollen bzw. weiblich und männlich klar definiert, sieht sich getäuscht. Selbst eine Bibelpassage, die sich mit Kleidervorschriften beschäftigt und so oft für Verwirrung sorgt, ist in 5. Moses 22,5 und 11 zu finden. Bei männlicher und weiblicher Kleidung gab es in Israel Unterschiede, wie aus dem Verbot des Kleidertausches hervorgeht. Dabei handelte es sich allerdings um die Abwehr fremdreligiöser Einflüsse und ist daher nicht verwendbar. Ebenso wie das Verbot, ein Kleid zu tragen, das aus Wolle und Leinen zugleich gemacht ist. Wichtig ist, die Bibel in ihrem geschichtlichen Kontext zu betrachten.

Im ersten Schöpfungsbericht heißt es über die Erschaffung des Menschen: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und schuf sie als Mann und Weib«, nach l. Mose 1,27. Der erste Schöpfungsbericht spricht von der Erschaffung des Menschen (Singular): Er schuf ihn zu seinem Bilde, gleichberechtigt als Mann und Frau. Es wird hier nicht beschrieben oder gar festgelegt, was unter einem Mann oder einer Frau zu verstehen ist, oder wie sie sich zu verhalten haben. Die Bibel schildert sanfte Männer, wie den Harfenspieler David und seinen Freund Jonatan, aber auch den Vergewaltiger Amnon, einen Sohn Davids. Und trotz patriarchalischer Grundauffassung schildert sie neben den Stammüttern Israels auch »starke Frauen« als Priesterin und Prophetin (Mirjam, Hulda), als Richterin und Retterin des Volkes (Debora, Judit) in Kampf und politischem Attentat.

Auch die Gottesbilder der Bibel haben »männliche« und »weibliche«, »väterliche« und »mütterliche« Züge. Hier das Beispiel eines Fruchtbarkeitssegens: »Von deines Vaters Gott werde dir geholfen und von dem Allmächtigen seist du gesegnet, mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Flut, die drunten liegt, mit Segen der Brüste und des Mutterleibes« (1. Mose 49,25).

Was ist einem Menschen von christlicher Seite her zu raten, der sich als transidentisch vorfindet? Er könnte sich fragen, ob sich Gott, sein Schöpfer, etwas bei ihm gedacht hat, – als einfach anzunehmen, daß er sich »geirrt« hat.

In dem Manuskript eines transidentischen Mannes wird der Prophet Jesaja mit folgenden Sätzen zitiert: »Wie kann einer es wagen, seinem Schöpfer Vorwürfe zu machen? Ist der Mensch Gott gegenüber mehr als ein Tongefäß, das aus der Hand eines Töpfers kommt? Fragt vielleicht der Tonklumpen den, der ihn formt: ›Was machst Du da?‹ Sagt das Werk zu seinem Meister: ›Du hast ungeschickte Hände?‹« (Jes. 45,9).

Der Verfasser, der sich auf diesen Text bezieht, schreibt, daß diese Aussage ihm geholfen habe »nicht mehr mit Gott zu hadern. Mehr noch, er sieht es heute so, daß ihn Gott mit seinem Problem geschaffen hat«. Und fragt sich, ob er als transidentischer Mensch eine besondere Aufgabe in dieser Gesellschaft und gegenüber den anderen hat.

Warum sollte er nicht auch den Psalm 139 »Ich danke dir, daß ich so herrlich geschaffen bin so wunderbar« für sich benutzen? Denn dieser Satz bezieht sich auch auf den inneren Reichtum des Menschen, auf seine Unergründlichkeit. Und das Wort »wunderbar« hat mit »sich wundern« zu tun: sich wundern über den Menschen – und was in ihm ist, nicht nur an lichten, sondern auch an dunklen Seiten. So gibt es ein Vertrauen darauf, daß unser Menschsein nicht dem »Zufall« zu verdanken ist oder gar dem »Teufel«, sondern einer positiven, das Leben wollenden Macht, eben Gott.


Micha Rabeneck ist Dekanatsbeauftragter der evangelischen Kirche für Transsexuelle.

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Seite angelegt am 20.08.2004, zuletzt geändert am 01.09.2005.