Eine Predigt über Transsexualität.

von Karin Kammann

Gottesdienst zu Römer 15,7:

Ausstellung: Fremd im eigenen Körper – Transsexuelle in Deutschland

Paul Gerhardt Kirche Köln Lindenthal – 12. Januar 1997

Kollektengebet

Hierher, Atem, zünd mich an
schick aus deiner fernsten Ferne
Wellen des Lichts
Komm zu uns
Armeleutevater
oberster Mundschenk

Komm bester Tränentrockner
liebster Seelengast
mein Freund und mein Schatten

Schenke Dein Wort in unsere Mitte
Frucht und Fruchtbarkeit
einmal Ausruhen
für Grübler und Geschundene
Du Atempause uns Verkrampften

Gott bist Du – lebendiges Wort
und ohne dich ist alles Nacht und Nebel
Qual und Schuld Du aber läßt aufblühen

Ja sag ich Dir, Nein tue ich Dir
Vergilt meinen Zweifel mit Freundschaft
siebenmal tausendmal

Nichts bin ich ohne dich
tot will ich sein zu dir
und ich werde blühen.

Amen.

nach Huub Oosterhuis

Lesung

Predigt über Römer 15, 7: »Nehmet einander an, wie Christus uns angenommen hat:«

Liebe Gemeinde,

ich gebe unumwunden zu: die Textgrundlage der heutigen Predigt ist dünn. Sehr dünn sogar. Ein Vers ausgesucht und noch so ein gut gemeinter, so ein christlicher. Als ob es so einfach wäre, einander anzunehmen. Als ob es nur der Erinnerung bedarf und eines mahnenden Zitieren, um Menschen wieder Menschen sein zu lassen in unserer Mitte. Denn darum geht es ja, wenn man Menschen annimmt. Sie wahrzunehmen. Sie in ihrer von Gott gemeinten Schönheit für wahr zu nehmen.

Ich denke, so einfach geht es nicht.

So Instant-Texte, wie ich sie nenne, so allzu richtige Theologie in Satzform gepreßt und jederzeit zu verabreichen, wird bitter und ungenießbar, wenn sie nicht erprobt und aufgegossen werden – im Alltag.


Da ist also ein Menschenskind, das sich nicht fühlt in der eigenen Haut. Das spürt und merkt, da stimmt was nicht mit mir. Bei den einen geschieht das eher, bei der anderen später. Aber irgendwann einmal heißt es: Annahme verweigert. Tut mir leid, ich bin nicht in der Lage, diese mein biologisches Geschlecht anzunehmen.

Was ist das?

Das ist Angst – sicherlich das auch. Es ängstigt abgrundtief, erkennen zu müssen, daß man anders ist. Da gibt es keinen Schutz im Allgemeinen. Das ist Mann, das ist Frau. Und Du? Dazwischen oder gar nicht mehr? Angst steigt da hoch, wenn diese Selbstversicherung nicht mehr klappt. Wenn man auswandern muß aus dem Land der offensichtlichen Gegebenheiten und den Horizont noch lange nicht erkennen kann.

Was wunder, wenn da die Nacht zum Tage wird, wenn das Dunkel überwiegt und nach langem Schweigen die ersten Worte wieder gefunden werden: Ich bin … anders.

Ich selber kann mich noch gut daran erinnern, wie wohlgehütet ich diese Geschichte in mir versteckt habe, ja – verstecken mußte. 27 Jahre hat es gedauert, bis ich sie habe aussprechen können. 27 Jahre und ein gnädiges Versteck, das für mich hieß: Theologie.

Das ist nicht zu unterschätzen, wenn man sich selber nicht annehmen kann. Daß es da ein Versteck gibt, in dem ich sein kann und dazu Menschen, die mich halten und aushalten können. Adam und Eva hat ein Dornenbusch genügt. Und eine rufende, und – wie es heißt: lustwandelnde Stimme Gottes im Garten.

Daß wir ins Leben gerufen werden, liebe Gemeinde, geschieht nicht immer und einmal damit, daß wir geboren werden. Daß wir ins Leben gerufen werden, geschieht auch dort, wo wir das selbstgewählte Versteck verlassen können, ohne uns schämen zu müssen. Das nennt man neudeutsch Coming out, und ich muß mich offen wundern, wie wenig die Theologie heute davon weiß. Dabei steckt doch die ganze Bibel voller Coming-outs. Voller Menschwerden, voller Zumutungen und Rufen ins eigene Leben. Du wirst sein … heißt es da. Und auch – du sollst leben.

Da ist es dann wichtig, daß die Angst nicht übermenschlich wird, die Normen – auch kirchliche Normen in uns setzen. Sexualität als solches ist schon ein schwieriges Thema, aber was soll man davon halten, wenn ein Mensch seine geschlechtliche Identität aufs Spiel setzt. Das ist doch nicht normal. Das ängstigt auch andere. Gewiß.

Nehmet einander an, wie Christus uns angenommen hat.

Tatsächlich, es gibt viele unter uns, denen diese Angst vor dem eigenen Coming out zu groß wurde. Zu übermenschlich. Untragbar. Es gibt Menschen, die heute nicht mehr unter uns sind. Menschen, die auf der Reise zwischen den Geschlechtern stecken geblieben sind, die nirgends anders mehr Zuflucht fanden als im Freitod. Und es ist und bleibt eine Herausforderung auch an die christliche Gemeinde, ihnen eine andere Zuflucht gewähren zu können. Asylstätten denen zu schaffen, die aus ihrem Geschlecht vertrieben sind. Mag sein, es ist an der Zeit auch kirchlicherseits damit anzufangen.

Es gibt daher auch immer wieder die andere Seite. Das Unverständnis der anderen. Die Hand, die sich nicht öffnet, sondern auf Abstand hält. Nein – komm mir nicht zu nahe. Es gibt genug Geschichten verweigerter Annahme. Auch von Seiten der Kirche und Gemeinde. Transsexualität und Kirche, so scheint es mir, beschreibt zunächst einen intimer Widerspruch. Intim deshalb, weil es um tiefste innere Gefühle und Überzeugungen geht, aber auch an den Kern der biblischen Botschaft. Und Gott schuf den Menschen als Mann und Frau. Da kann es sich nicht allein in eine Larifari-Solidarität mit Minderheiten erschöpfen, da müssen Widersprüche ernst genommen werden und nicht nur Menschen angenommen. Also, nehmet einander an, auch in den Widersprüchen, die ihr habt. Denn auch die Annahme Christi geschah im Widerspruch.

Es langt also nicht nur, Kirche für andere sein zu wollen, und wenn es die exotischen Minderheiten sind, zu sein. Das ist zwar wichtig und bitter nötig. Aber man kann damit der notwendigen theologischen Auseinandersetzung auch aus dem Weg gehen. Wir akzeptieren und integrieren alles, solange Menschen in die Kirche kommen. Daß Gott uns dann annimmt, wird leider nur zum allzu richtigen Satz und man steht daneben und fragt: na und? Man betritt seichtes Gewässer der Theologie und niemand wundert sich, daß unsere Kirchen leerer und leerer werden. Wer aufbricht und in die Wüste zieht, braucht anderes. Der braucht andere Nahrung. Wüstennahrung und Wegzehrung.

Kurzum: Solidarität wird schwierig, wo man sich selber nicht anstecken will. Wo schöne Bilder an der Wand hängen, aber die Menschen dazu stumm bleiben. Der voyeuristische Blick reizt, gewiß auch die Exotik und die Radikalität der Grenzüberschreitung.

Das alles aber kann konsumiert werden, auch in kirchlichen Räumen. Aber der Frage, die Transsexualität aufwirft in dieser Gesellschaft und in dieser Kirche, wird damit nicht unbedingt beantwortet, vielleicht noch nicht mal gestellt. Die Frage nach den Geschlechtern und ihrer Konstruktion, nach den dort herrschenden Machtverhältnissen und auch die Frage nach Erlaubnissen der Gesellschaft und den Normen, den wir als Mann oder Frau zu folgen haben.

Transsexualität, so habe ich es auch einmal genannt, ist die Geschichte einer Desertation. Einer Desertation aus den vorgegebenen Rollen, einer Desertation aus dem gegebenen Geschlecht. Niemand wird dabei den Vorgesetzten fragen wollen: Darf ich? Es geht im Akt der Entscheidung nicht um Erlaubnisse, niemals – sondern darum, daß man nicht anders leben kann.

Daß man vielleicht auch den Krieg der Geschlechter so satt hat, den man ja auf der eigenen Haut, in sich selber so vehement erfahren hat. Man geht dann diesen Wege, oft einsam. Deserteuere haben – seien wir ehrlich – auch in Deutschland keinen guten Ruf.

Man desertiert also und findet sich oft genug, wie es das Wort nahe legt, in der Wüste wieder. Ja, oft genug wird man auch dahin geschickt. Wer sollte dafür auch Verständnis entwickeln können, wenn man geht?

Nehmet einander an, wie Christus uns angenommen hat.

Bilder können letztendlich keine Debatte ersetzen, höchsten anstoßen. Und die Frage verschärft sich kirchlicherseits tatsächlich, wenn es heißt: Kann diese Kirche tatsächlich eine transsexuelle Pastorin beschäftigen, oder nicht? Gibt es demnächst eine transsexuelle Presbyterin? Einen transsexuellen Presbyter? Die Frage ist – zumindest in meiner Person, noch lange nicht beantwortet. Wer desertiert, muß nicht unbedingt mit dem Verständnis der anderen für diesen Schritt rechnen.

Aber deswegen auch zurück zu den Widersprüchen. Zu denen, die bleiben – auch theologisch. Hat Gott nicht uns Menschen als Mann und Frau geschaffen? Sind Veränderungen solch gravierender Art nicht gotteslästerlich? Wie kann ein Mensch aus Gottes guter Schöpfung desertieren wollen und sein Geschlecht wechseln?

Ja, es rührt an einen tiefen, nicht nur theologischen Nerv. Veränderungen ängstigen, auch die Kirche, obwohl sie doch sich nach dem Reich Gottes ausstrecken soll. Veränderungen ängstigen und es geht ein Raunen durch den Raum, wenn sie so offensichtlich und rückhaltlos gelebt werden, wie von uns Transsexuellen.

Nehmet einander an, wie Christus uns angenommen hat. Wie sollte es da gehen, wo die einen froh sind, unverändert und sicher in Gottes Schoß zu sitzen und die anderen radikal aufbrechen. Akzeptanz bedeutet tatsächlich, die anderen Lebenserfahrungen respektieren zu lernen. Den Aufbruch würdigen zu können, ihm mit abgrundtiefem Respekt zu begegnen. Das ist schwierig, wenn es einen selber verunsichern kann.

In einer Zeit, wo sich die Geschlechtergrenzen auch ohne Transsexuelle auflösen, kann es zwei Wege gehen, dem zu begegnen. Der eine ist der Rückgriff in den schlichten Biologismus, theologisch gesagt: der Rekurs auf eine Schöpfung, die schon immer so war und so ist und so bleiben wird. Mann bleibt Mann und Frau ist Frau. Machtverhältnissen und Menstruation sei dank.

Vielleicht kann man dann, angesichts einiger doch offensichtlicher Webfehler Gottes doch einige Ausnahmen erlauben, denn diese bestätigen die Regel. Aber ändern, wirklich verändern wird sich damit nichts. Rein gar nichts.

Aber was tun, wenn dieser Rückgriff ins Allgemeine, diese Versicherung nicht mehr möglich ist. Zumindest den Betroffenen selber nicht mehr möglich ist. Als Ausnahme zu leben, ist niemandem zu wünschen. Ein Nischenplatz wird niemand begehren und die Phantasien um ein drittes Geschlecht jenseits von Mann und Frau sind schon zu lange passe, als daß sie nun in der Theologie aufgekocht werden sollten.

Was also tun, wenn die Frage nicht mehr an dem beantwortet werden kann, was offensichtlich ist. Wenn da unter dem Gegebenen das Gegenteil gefordert ist. Sub contrario gelebt wird. Luther und Paulus, von dem ja unser Predigtfetzen stammt, wußten damit umzugehen. Mit diesem sub contrario Leben im Widersrpuch. Beide sind ja selber, in Anfechtung erprobte Menschen gewesen.

Wer sich nicht mehr versichern kann an dem was ist, wer nicht mehr zurück greifen kann, der greift tapfer nach vorne aus. Eine unerhörte Arroganz ist das – gewiß. Aber auch eine verzweifelt himmelschreiende. Eine zum Himmel schreiende. Eine Arroganz, die nach Antwort verlangt. Luther beschrieb es für sich so: wenn Du kein Urteil über dich selber finden kannst, ob du nun gerecht seiest oder verworfen, dann laufe vor bis in alle Ewigkeiten und liege und klage Gott dort in den Ohren, ob Du in Erfahrungen bringen kannst, wes Standes Du seiest.

Luther tat es, er holt sein Urteil vorlaufend und endgültig über sich selber ein. Und es hieß: geliebt, gerechtfertigt und angenommen bei Gott. Damit ist zu leben, ganz anders als mit Akzeptanzen und freundlichen Unterstützungen. Ein solches Urteil stärkt den Rücken, gibt Kraft für den langen Weg, der noch vor einem liegen mag.

Rechtfertigungslehre ist das, ganz einfach und elementar gesprochen. Sub contrario-Erfahrung, eine Erfahrung des Gegenteils und des Widerspruchs zu machen. Gegen allen Augenschein rechtfertigt Gott den Sünder – den, der es nicht verdient hat. Gott macht groß die Kleinmütigen und Ängstlichen, Gott erhebt den Angefochtenen und den, der sich himmelschreiend zu ihm flüchtet. Sub contrario also ist auch das Geheimnis Gottes selber.

Nehmet einander an, wie Christus uns angenommen hat.

Gegen allen Augenschein zu leben auf Hoffnung, dazu ist die christliche Gemeinde berufen. Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden – das ist ein zutiefst christlicher Satz, der alle Leidenschaft in sich tragen kann und soll.

Nicht nur bei transsexuellen Menschen, – bei denen vielleicht sehr deutlich – aber umso mehr auch bei uns allen. Sich sehnen nach Veränderungen, da kommt niemand wirklich dran vorbei, will er sich ein Christ oder eine Christin nennen. Versöhnung und Rechtfertigung stellt die Schöpfung nicht auf den Kopf. Das gewiß nicht. Aber sie ist so radikal und revolutionär, daß wir tatsächlich neue Menschen werden können und sollen. Geliebte und Lebenskomplizen. Überlebende und Verliebte.

Verletzlich, offen und zum Aufbruch bereit. Solidarität heißt dann: den Blick heben, den Horizont weiten, sich einlassen auf den verführerischen Duft des Lebens, das Christus uns wiederbracht. Denn nicht ist verloren, niemand geht verloren, wenn Christus uns annimmt. Eine Witterung für dieses angefochten geliebte Leben zu entwickeln, das wäre eine wahrhaft christliche Tugend. Ich wünsche mir und allen eine Sensibilität, die gegen allen Augenschein Menschen für wahr nimmt, annimmt inmitten aller Entfremdung.

Oder wie Paulus schreibt:

als die Unbekannten, und doch bekannt
als die Sterbenden, und siehe doch: wir leben.

Daher und abermals ermutige ich euch:

Nehmet einander an, wie Christus uns angenommen hat.

Amen.


Copyright: Karin Kammann. Mit ihrer freundlichen Genehmigung veröffentlich im GenderWunderLand.

Diese Predigt war die vorletzte Predigt in einem Sonderdienst der evangelischen Kirche im Rheinland, der nie geleistet wurde. Mit Urteil vom März 1999 wurde die Landeskirche dazu verpflichtet, mich endlich wieder in einen geregelten Predigtdienst aufzunehmen, was danach allerdings auch nicht geschah. Der letzte Gottesdienst im Sonderdienst wurde dann auf Einladung der Huren in Berlin Kreuzberg gehalten anlässlich des Hurenkongresses 2000, doch das ist eine andere Geschichte, die anderswo erzählt werden soll.

Seite angelegt am 07.03.2005, zuletzt geändert am 01.09.2005.